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Autismus - Die Frage nach der Definition

Ab und zu werden wir darauf hingewiesen, daß wir angeblich eine Interessenvertretung von Autisten seien, aber nicht klar sei, wie wir Autismus überhaupt definieren würden. In der Tat findet sich auf dieser Site seit jeher keine Autismusdefinition.

Die pathologisierenden, defizitorientierten Definitionen taugen nicht nur wegen in ihnen vorhandenen letztlich willkürlichen kulturellen Wertungen nicht, sie führen oft auch noch angebliche Symptome auf, die gar nicht auf Autismus zurückgehen, sondern Zeichen allgemeinmenschlicher psychischer Dauerüberlastung sind. Aufgrund der bis heute noch oft sehr widrigen vermeidbaren Lebensumstände von Autisten sind wir ungewöhnlich oft in solchen Zuständen und zeigen daher auch öfter solche Verhaltensweisen. Diese gewisse Überlappung stellt jedoch lediglich einen statistischen Effekt dar. Andererseits meinen wir, wenn wir von Autisten sprechen, durchaus die Gruppe Menschen, die die Medizin mittels dieses Begriffs im Blick hat. Uns ist jedoch keine formale Definition bekannt, die wir für ausreichend treffend halten, weswegen wir auch so ehrlich sind keine solche Definition zu vertreten.

Auch von Seite der "Experten" gab es schon immer Zweifel an der Treffgenauigkeit der eigenen Ansätze:

Zitat:
Es ist zwar berechtigt und notwendig, wie KANNER es tut, im Rahmen einer naturwissenschaftlich-biologischen Krankheitslehre die Phänomene autistischen Lebens zu Symptomen zu reduzieren und hinter diesen Symptomen "Grundstörungen", also Funktionsstörungen innerhalb des Naturobjektes Mensch zu suchen. Autismus wird dadurch definiert als klinisches Syndrom. Man muß aber auch sehen, daß sich einer solchen Betrachtungsweise das Wesen des Autismus als spezifische Abwandlung menschlichen Daseins verschließt.
[...]
Das gleiche Vorgehen ist bei ASPERGER zu beobachten.
[...]
Angesichts dieser Situation ist der Einwand FRIEDMANNs naheliegend, daß für diese beschriebenen Kinder der Begriff "autistisch", so wie er von der Psychopathologie der Erwachsenen her überlicherweise verwendet werde, vielleicht gar nicht angebracht sei. Zwar sieht man wie ZUTT hervorhob, angesichts der ausgezeichneten klinischen Schilderungen ASPERGERs die beschriebenen Patienten plastisch vor sich und erinnert sich ähnlicher Fälle, aber das, was nun eigentlich autistisch bei ihnen ist, was ihre Daseinsentfaltung als eine autistische kennzeichnet, scheint doch nicht mit befriedigender Schärfe herausgearbeitet zu sein.

Quelle: "Der frühkindliche Autismus", Bosch, 1962, Springer-Verlag, S.49f

Autismus ist ein faktisch vorhandener menschlicher Archetyp, der jedoch trotz seiner Faktizität schwer greifbar ist. Nichtautisten wissen nicht, wie sich Autisten fühlen. Autisten wissen nicht wie sich Nichtautisten fühlen. Daraus resultiert schon eine gewisse Schwierigkeit: Wer soll vergleichen, was so grundlegend verschieden zu sein scheint?

Wir Autisten stellen immer wieder fest, daß die Zuschreibungen von Nichtautisten in Bezug auf Autisten bei genauerer Betrachtung und vor allem mit wachsendem Einblick in die tatsächlichen Gegebenheiten in immer wieder verblüffender Weise viel mehr auf durchschnittliche Nichtautisten selbst zutreffen. Wie kommt das? Eine negative Projektion der eigenen selbst nicht erfüllten Werte in das Fremde?

Hier zur Diskussion der Versuch einer kindgerechten Einordnung zur Frage "Was ist Autismus":

Zitat:
Autisten haben schärfere Sinne, sie sehen mehr, hören mehr und so weiter. Aber diese Welt ist für Menschen eingerichtet, die stumpfere Sinne haben. Das ist so als würde irgendjemand fast nur mit Menschen leben, die ziemlich schwerhörig sind und alles ganz laut bereden und Musik und den Fernseher ganz laut aufdrehen, so daß es demjenigen in den Ohren wehtut. In dieser Welt wären auch alle Autos unheimlich laut und genauso viele andere Sachen, weil die meisten Menschen das nicht stört. Deswegen ist auch das Leben als Autist in dieser Welt voller Nichtautisten oft noch ziemlich anstrengend. Manche Autisten sprechen deswegen gar nicht.

Die meisten Nichtautisten sehen nur, daß es Probleme macht, wenn wir uns ständig gestört fühlen und sehen nicht, wie viel mehr wir von der Welt sehen, daß wir manches intensiver erleben als sie und oft auch Dinge erkennen, die sie nicht erkennen. So wie Schwerhörige nicht alle Einzelheiten in einem Musikstück hören.

Aber das ist nicht das Einzige, was Autismus ist. Einige Beispiele von Beobachtungen:

Nichtautisten richten ihr Leben meist darauf aus Verbündete zu haben. Das ist ihnen an Wichtigsten um sich wohl zu fühlen. Autisten hingegen richten ihr Leben meist darauf aus, was richtig zu sein scheint. Das ruft im Alltag sehr große Unterschiede hervor. Nichtautisten lügen praktisch jeden Tag, weil für sie wichtig ist Menschen an sich zu binden oder zumindest keine Feinde zu haben. Viele Autisten können hingegen gar nicht lügen, weil das ihr gesamtes Denken auf den Kopf stellen würde.

Die Menschen sind verschieden und das ist gut so. Manchmal sind viele Menschen der Meinung, daß die eine oder andere Gruppe minderwertiger ist. Vielleicht hängt das mit dem Rudeldenken (Gruppendenken, das nicht ohne Rangordnung auskommt) der Nichtautisten zusammen, denn in einem Rudel gibt es oft Kämpfe darum wer besser als jemand anderes ist. Die Nichtautisten brauchen uns, aber viele sind sich darüber nicht klar. Eine autistische Professorin aus dem USA hat mal geschrieben, daß ihrer Meinung nach die Menschen noch in Höhlen leben würden, wenn es keine Autisten geben würde, die Dinge ausdauernd weiterdenken.


Ein Modell vier verschiedener autistischer Typen als weiterer Diskussionsvorschlag:
Zitat:
1. Utopist: Da wo die Themen der Utopisten mit Small-Talkern geteilt werden, kommen sie miteinander klar. Wo das Interesse des Utopisten ist, da kann er mündlich gut referieren und auch diskutieren. Aber ihm liegt dann oft eher das schriftliche, wobei er sich möglicherweise dessen nicht immer so bewußt ist, da etliche wohl nicht so einfach erfassen, daß das eine mündlich gut geht und in anderen Bereichen dies nicht möglich ist. Der Utopist will etwas verbessern, sein Alltagsleben tritt für ihn darüber eher in den Hintergrund, Gerechtigkeit ist für ihn wichtig. Wo der Diamant eher neutral und abwägend ist, da vertritt der Utopist aber parteiische Vorstellungen.
2. Diamant: Introvertiert, scheu, positives Menschenbild, das sich idR mit zunehmender Lebenserfahrung deutlich eintrübt, klare innere Ordnung?, besonders sachbezogen, neigt dazu sich in Interaktion mit anderen gleichrangig mit diesen "von außen" zu betrachten, kommt meist nicht auf die Idee sich z.B. von Kritik persönlich angegriffen zu fühlen
3. Small-Talk-Autie (beliebte Selbstbezeichnung häufig "Aspie"): Viele moderat ausgeprägte NA-Eigenschaften inklusive Rudelverhalten, aber auch autistentypische Teilhabeschwierigkeiten und spürbar geringere Komplexität von typischen NA-Lebenslügenskonstruktionen, vermehrt in Vor-Ort-SHGn zu finden = mündliche Kommunikation wird schriftlicher Kommunikation oft freiwillig vorgezogen, oft fröhliches Naturell, "Gemütlichkeit" wichtiger als Korrektheit, Abgrenzung von Gruppen dieser Sorte Autist nach außen auch durch Intrigen und Gemeinheiten, Tendenz zum Nerd?
4. Graphit: Innere Selbstbild-Unsicherheit kann aggressive "verteidigende" Reaktionen hervorbringen, fühlt sich schnell angegriffen und beleidigt
Strebt "Harmonie" auf persönlicher Ebene an? Zeigt teils deutlich taktisches Verhalten mit diesem Ziel, Wahrheit wird auch als wichtig empfunden, "trägt" aber emotional nicht das ganze Dasein, innere Ordnung weist Uneinheitlichkeiten auf (Bröckchen statt einheitliche Kristallstruktur)
Zieht schriftliche Kommunikation tendenziell vor, oft belastet von mündlicher Kommunikation, Sinneswahrnehmung nicht weniger sensibel als bei "Diamanten", Tendenz zur Identifikation mit dem Körper?

Eine Korrekturthese des verbreiteten Autismusspektrumsmodells:
Zitat:
Das Autismus-Schizophrenie-Spektrum

Zur Zeit verbreitete Autismusspektumsmodelle gehen davon aus, daß jeder Mensch die Eigenschaft "Autismus" aufweist. Jedoch in verschiedener Intensität. Bei genauerer ganzheitlicher Betrachtung der gesunden menschlichen Neurodiversität fällt jedoch auf, daß dieses Modell ein Fragment geblieben ist.

Aktive Schizophrenie ist eine Art Gegenpol von Autismus. Autisten fassen relativ direkt auf. Nichtautisten interpretieren mehr und liegen dabei auch im Umgang untereinander erstaunlich oft daneben. "Schizophrene" interpretieren in den entsprechenden Phasen soviel, daß es selbst durchschnittlichen Nichtautisten wahnhaft vorkommt. Weil den durchschnittlichen Nichtautisten die schizophrene Empathie genauso fehlt, wie den Autisten die durchschnittlich nichtautistische Empathie. Denn Empathie ist die Übertragung des eigenen Wesens auf andere Menschen um diesen besser zu verstehen. Die dabei aus typischerweise recht oberflächlicher durchschnittlich nichtautistischer Perspektive besonders auffällige Autisten und "Schizophrene" sind solche, die sich in einer Krisensituation befinden.

Dafür gibt es auch Indizien, die man wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entnehmen kann, die jedoch stets wegen verbreiteter ideologisch willkürlicher Grundannahmen, übertriebener Schlußfolgerungen, etc. mit großer Vorsicht zu genießen sind.

Die Uniklinik Giessen (Prof. Frith) gab beispielsweise vor einigen Jahren bekannt, man habe bei Beobachtungen von Gehirnen beim »Mentalizing«, der mentalen Reaktion auf die Umwelt, in den dabei als aktiv erkannten Hirnarealen bei Autisten eine unterdurchschnittliche Aktivität, bei "Schizophrenen" aber eine überdurchschnittliche Aktivität ausgemacht.
Andere Forscher ließen verlauten man habe festgestellt Autisten würden überdurchschnittlich viele Synapsen im Gehirn aufweisen, "Schizophrene" jedoch eine unterdurchschnittliche Anzahl.

Wie auch immer man diese Angaben im Detail deuten will: Durchschnittlicher Nichtautismus wäre somit aus autistischer Perspektive eine verbreitete Form der Schizophrenie.


Wer einen Definitionsvorschlag hat, kann ihn gerne mit uns diskutieren, vorzugsweise im Ratgeberforum.